Wellen & Zinnen

Eis

In einem kalten Winter Ende des letzten Jahrtausends war die Lahn ein, zwei Wochen lang zugefroren. Eine dicke, schneebedeckte Eisschicht starrte da, wo sonst winterlich-schwarz das Flüßchen strömte, und selbst als ich schon wußte, daß das Eis trägt, dauerte es noch ein paar Tage, bis ich den Fluß nicht mehr als Hindernis begriff, sondern als Weg.

Ich konnte auf meinen täglichen Strecken ein paar hundert Meter sparen, indem ich nicht die Brücke nahm. Schon die Böschung hinunterzuklettern war seltsam; unten hart aufzukommen. Jeder Schritt weg vom Ufer verstärkte das Gefühl von: verkehrt, ganz falsch!, Tempo, Richtung, Perspektive: alles ganz falsch! Ich kannte den Fluß vom Boot, vom Schwimmen und natürlich von der Brücke herunter, aber Augenhöhe war nie dabei gewesen. Die Wasseroberfläche als Boden, wie Mauern die Uferböschungen – falsch!

Voll Scheu und Entzücken nahm ich Wege übers Eis, die ein bißchen länger waren als nötig, jeder Schritt sehr bewußt ein Schritt, sehr bewußt auch, daß unter dem weißen Boden schwarzes Wasser fließt. Unheil und Gefahr – ich balancierte über einer Tiefe aus Märchen und bösen Geschichten, die ich von klein auf gehört und gelesen hatte. Auf der anderen Seite atmete ich auf.

Ein paar Tage ging das so; dann stiegen die Temperaturen, die Eisdecke begann zu knacken und trieb bald in Schollen mit dem Strom davon. Ich bin danach nie wieder auf einem zugefrorenen Fluß gegangen.

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