Wellen & Zinnen
Dienstag, 22. August 2017

Eis

In einem kalten Winter Ende des letzten Jahrtausends war die Lahn ein, zwei Wochen lang zugefroren. Eine dicke, schneebedeckte Eisschicht starrte da, wo sonst winterlich-schwarz das Flüßchen strömte, und selbst als ich schon wußte, daß das Eis trägt, dauerte es noch ein paar Tage, bis ich den Fluß nicht mehr als Hindernis begriff, sondern als Weg.

Ich konnte auf meinen täglichen Strecken ein paar hundert Meter sparen, indem ich nicht die Brücke nahm. Schon die Böschung hinunterzuklettern war seltsam; unten hart aufzukommen. Jeder Schritt weg vom Ufer verstärkte das Gefühl von: verkehrt, ganz falsch!, Tempo, Richtung, Perspektive: alles ganz falsch! Ich kannte den Fluß vom Boot, vom Schwimmen und natürlich von der Brücke herunter, aber Augenhöhe war nie dabei gewesen. Die Wasseroberfläche als Boden, wie Mauern die Uferböschungen – falsch!

Voll Scheu und Entzücken nahm ich Wege übers Eis, die ein bißchen länger waren als nötig, jeder Schritt sehr bewußt ein Schritt, sehr bewußt auch, daß unter dem weißen Boden schwarzes Wasser fließt. Unheil und Gefahr – ich balancierte über einer Tiefe aus Märchen und bösen Geschichten, die ich von klein auf gehört und gelesen hatte. Auf der anderen Seite atmete ich auf.

Ein paar Tage ging das so; dann stiegen die Temperaturen, die Eisdecke begann zu knacken und trieb bald in Schollen mit dem Strom davon. Ich bin danach nie wieder auf einem zugefrorenen Fluß gegangen.

Brücken

Brücken sind merkwürdige Zwitterwesen. Sie sind nicht Wasser, trotzdem liegen sie zwischen Ufern; sind nicht festes Land, dennoch kann man auf ihnen stehen und gehen; sind nicht Luft, erheben sich aber in ihr, umflossen allseitig von substanzlosem Raum. Merkwürdig, auf einer Brücke zu stehen und dem eigenen Schatten auf dem fließenden Wasser zuzuwinken. Der Schatten winkt zaghaft zurück, als könne er es selbst nicht glauben. Es gibt keine echte Grenze zwischen dem Grund der Brücke und dem Land, aus dem sie herauswächst; man überschreitet keine Linie, man bleibt auf dem Grund, auf kontinuierlich zur Verfügung stehendem Boden. Man geht und geht und verläßt nie das Ufer, und trotzdem ist man irgendwann drüben. Festes Land. Die Römer, bis zur ersten Auseinandersetzung mit der Seemacht Karthago emphatische Landratten, die erst mal Wasser schluckten, als sie sich endlich auch einmal aufs Meer wagten, haben aus der Not eine Tugend gemacht, und trugen den Landkampf zu Fuß, worin sie unbestreitbar Meister waren, auf See, indem sie das dazu erforderliche feste Land gleich mitbrachten: bewegliche, an ihrem Ende mit Haken versehene Enterbrücken, corvi genannt, von Schiffsrumpf zu Schiffsrumpf geschlagen, ermöglichten den Infanteristen einen Überfall zu Fuß auf das feindliche Schiff. Eine Brücke über einen Fluß aber schwimmt nicht; sie besteht tatsächlich aus der Simulation von festem Land. Eine geometrische Unmöglichkeit: Auf einer Brücke wachsen die Ufer zu ununterbrochenem Grund zusammen. Wo aber ist man, wenn man sich auf dem Scheitel der Brücke befindet, an welchem Ufer? Auf einer Art dritter Seite des Flusses, die den Strom nicht unterbricht. Irgendwann muß einmal ein Baumstamm über einen Fluß gestürzt und eine Über-Brückung gebildet haben, ein Zufall, der unseren ältesten Vorfahren zur Inspiration für künstliche Wege dieser Art gedient haben mag. Ein schwieriges Konzept: Der Baum ist an zwei Ufern gleichzeitig, reicht zu beiden Ufern, und die Ufer greifen zu und geben sich in der Mitte die Hand. Wie wenn jemand, der mit gespreizten Beinen über einem Bächlein steht, mit Recht sagen kann, er stehe an zwei Ufern gleichzeitig. Der Charakter des festen Landes zeigt sich in den Dingen, die man auf einer Brücke tun kann. Eisenbahnschienen verlegen, Häuser bauen, Wettrennen veranstalten, mit Wagen fahren, reiten. Es gibt sogar Brücken, die einen Kanal über einen anderen Wasserlauf leiten. Wie das feste Land als Bachbett hält eine solche Brücke in festem Grund strömendes Wasser, und unten strömt ein anderes Wasser vorbei. Doch seltsam: Wasser selbst ist nie eine Brücke. Eine Landenge, die das Festland mit einer Halbinsel verbindet, mag man als Landbrücke bezeichnen (auch wenn sie das Wasser nicht überbrückt, sondern trennt); aber eine Meerenge, die zwei Ozeane verbindet, ist niemals eine Wasserbrücke. Das Verbindende allein ist kein Charakteristikum für die Brücke. Die Brücke ist fest; sie verbindet Festes. Sie ist die sichere Verbindung zwischen Sicherheiten, die von Gefahr und Unwegsamkeit getrennt sind — das Wasser aber ist ja immer unwegsam. Wasser braucht selbst eine Brücke. Wasser ist das brückenpflichtige Element schlechthin. Das Gegenstück zur Brücke ist vielleicht der Tunnel. Brücken sind immer positiv konnotiert. Wer etwas überbrückt, eine Durststrecke etwa, weiß Abhilfe für die Not, bis wieder fester Grund erreicht ist. Brücken kann man zwischen verfeindeten Nationen ebenso schlagen wie zwischen einander nicht grünen Religionen, zwischen politischen Lagern wie zwischen wissenschaftlichen Theorien oder literarischen Schulen. Immer ist etwas Positives gemeint. Versöhnung, Dialog, Offenheit, Aufeinanderzugehen, Beilegung von Differenzen. Die Brücke ist die Stabilität an sich, sie trägt, sie überwindet Hindernisse, trickst Gefahren aus, weiß einen Weg, und die Dentalbrücke läßt uns auch dort noch kauen, wo ohne sie eine Lücke klaffte. Und wer die Brücken hinter sich abbricht, tut es meist mit dem Mut der Verzweiflung. Die Brücke meint es immer gut mit uns. (Wenn es nicht gerade eine Enterbrücke ist.)

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