Wellen & Zinnen
Mittwoch, 23. August 2017
Dienstag, 22. August 2017

Eis

In einem kalten Winter Ende des letzten Jahrtausends war die Lahn ein, zwei Wochen lang zugefroren. Eine dicke, schneebedeckte Eisschicht starrte da, wo sonst winterlich-schwarz das Flüßchen strömte, und selbst als ich schon wußte, daß das Eis trägt, dauerte es noch ein paar Tage, bis ich den Fluß nicht mehr als Hindernis begriff, sondern als Weg.

Ich konnte auf meinen täglichen Strecken ein paar hundert Meter sparen, indem ich nicht die Brücke nahm. Schon die Böschung hinunterzuklettern war seltsam; unten hart aufzukommen. Jeder Schritt weg vom Ufer verstärkte das Gefühl von: verkehrt, ganz falsch!, Tempo, Richtung, Perspektive: alles ganz falsch! Ich kannte den Fluß vom Boot, vom Schwimmen und natürlich von der Brücke herunter, aber Augenhöhe war nie dabei gewesen. Die Wasseroberfläche als Boden, wie Mauern die Uferböschungen – falsch!

Voll Scheu und Entzücken nahm ich Wege übers Eis, die ein bißchen länger waren als nötig, jeder Schritt sehr bewußt ein Schritt, sehr bewußt auch, daß unter dem weißen Boden schwarzes Wasser fließt. Unheil und Gefahr – ich balancierte über einer Tiefe aus Märchen und bösen Geschichten, die ich von klein auf gehört und gelesen hatte. Auf der anderen Seite atmete ich auf.

Ein paar Tage ging das so; dann stiegen die Temperaturen, die Eisdecke begann zu knacken und trieb bald in Schollen mit dem Strom davon. Ich bin danach nie wieder auf einem zugefrorenen Fluß gegangen.

Brücken

Brücken sind merkwürdige Zwitterwesen. Sie sind nicht Wasser, trotzdem liegen sie zwischen Ufern; sind nicht festes Land, dennoch kann man auf ihnen stehen und gehen; sind nicht Luft, erheben sich aber in ihr, umflossen allseitig von substanzlosem Raum. Merkwürdig, auf einer Brücke zu stehen und dem eigenen Schatten auf dem fließenden Wasser zuzuwinken. Der Schatten winkt zaghaft zurück, als könne er es selbst nicht glauben. Es gibt keine echte Grenze zwischen dem Grund der Brücke und dem Land, aus dem sie herauswächst; man überschreitet keine Linie, man bleibt auf dem Grund, auf kontinuierlich zur Verfügung stehendem Boden. Man geht und geht und verläßt nie das Ufer, und trotzdem ist man irgendwann drüben. Festes Land. Die Römer, bis zur ersten Auseinandersetzung mit der Seemacht Karthago emphatische Landratten, die erst mal Wasser schluckten, als sie sich endlich auch einmal aufs Meer wagten, haben aus der Not eine Tugend gemacht, und trugen den Landkampf zu Fuß, worin sie unbestreitbar Meister waren, auf See, indem sie das dazu erforderliche feste Land gleich mitbrachten: bewegliche, an ihrem Ende mit Haken versehene Enterbrücken, corvi genannt, von Schiffsrumpf zu Schiffsrumpf geschlagen, ermöglichten den Infanteristen einen Überfall zu Fuß auf das feindliche Schiff. Eine Brücke über einen Fluß aber schwimmt nicht; sie besteht tatsächlich aus der Simulation von festem Land. Eine geometrische Unmöglichkeit: Auf einer Brücke wachsen die Ufer zu ununterbrochenem Grund zusammen. Wo aber ist man, wenn man sich auf dem Scheitel der Brücke befindet, an welchem Ufer? Auf einer Art dritter Seite des Flusses, die den Strom nicht unterbricht. Irgendwann muß einmal ein Baumstamm über einen Fluß gestürzt und eine Über-Brückung gebildet haben, ein Zufall, der unseren ältesten Vorfahren zur Inspiration für künstliche Wege dieser Art gedient haben mag. Ein schwieriges Konzept: Der Baum ist an zwei Ufern gleichzeitig, reicht zu beiden Ufern, und die Ufer greifen zu und geben sich in der Mitte die Hand. Wie wenn jemand, der mit gespreizten Beinen über einem Bächlein steht, mit Recht sagen kann, er stehe an zwei Ufern gleichzeitig. Der Charakter des festen Landes zeigt sich in den Dingen, die man auf einer Brücke tun kann. Eisenbahnschienen verlegen, Häuser bauen, Wettrennen veranstalten, mit Wagen fahren, reiten. Es gibt sogar Brücken, die einen Kanal über einen anderen Wasserlauf leiten. Wie das feste Land als Bachbett hält eine solche Brücke in festem Grund strömendes Wasser, und unten strömt ein anderes Wasser vorbei. Doch seltsam: Wasser selbst ist nie eine Brücke. Eine Landenge, die das Festland mit einer Halbinsel verbindet, mag man als Landbrücke bezeichnen (auch wenn sie das Wasser nicht überbrückt, sondern trennt); aber eine Meerenge, die zwei Ozeane verbindet, ist niemals eine Wasserbrücke. Das Verbindende allein ist kein Charakteristikum für die Brücke. Die Brücke ist fest; sie verbindet Festes. Sie ist die sichere Verbindung zwischen Sicherheiten, die von Gefahr und Unwegsamkeit getrennt sind — das Wasser aber ist ja immer unwegsam. Wasser braucht selbst eine Brücke. Wasser ist das brückenpflichtige Element schlechthin. Das Gegenstück zur Brücke ist vielleicht der Tunnel. Brücken sind immer positiv konnotiert. Wer etwas überbrückt, eine Durststrecke etwa, weiß Abhilfe für die Not, bis wieder fester Grund erreicht ist. Brücken kann man zwischen verfeindeten Nationen ebenso schlagen wie zwischen einander nicht grünen Religionen, zwischen politischen Lagern wie zwischen wissenschaftlichen Theorien oder literarischen Schulen. Immer ist etwas Positives gemeint. Versöhnung, Dialog, Offenheit, Aufeinanderzugehen, Beilegung von Differenzen. Die Brücke ist die Stabilität an sich, sie trägt, sie überwindet Hindernisse, trickst Gefahren aus, weiß einen Weg, und die Dentalbrücke läßt uns auch dort noch kauen, wo ohne sie eine Lücke klaffte. Und wer die Brücken hinter sich abbricht, tut es meist mit dem Mut der Verzweiflung. Die Brücke meint es immer gut mit uns. (Wenn es nicht gerade eine Enterbrücke ist.)

Mittwoch, 9. August 2017
Donnerstag, 9. Februar 2017

Die Menschen kommen und gehen. Der Strom bleibt

Als Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts Griechenland bereiste, gebrauchte er laut einer Legende das Werk von Pausanias als Reiseführer. Etwas frischer ist Horst Johannes Tümmers Buch über den Rhein, und wer in den zehner Jahren des 21. Jahrhunderts am wohl berühmtesten, jedenfalls verklärtesten Fluß Mitteleuropas unterwegs ist, wird damit sicher immer noch eine brauchbare Reiselektüre im Gepäck haben. Erschienen 1994, entsprechend an manchen Stellen schon etwas eingestaubt, bietet das Buch dessenungeachtet eine interessante, bereichernde Lektüre, indem die großen Züge der mitteleuropäischen Geschichte, von den Römern bis heute, anhand der Abschnitte und Ufer dieses bedeutenden Stromes erzählt, miteinander und mit den Regionen rechts und links des Stromes in Beziehung gesetzt und sozusagen aus Sicht des Flusses, mit dem Fluß als Hauptperson, so erzählt werden, wie man sie noch nie gehört hat. Der Strom bleibt, während die Geschichte über ihn hinwegzieht.

Doch auch der Fluß selbst hat natürlich seine Geschichte, auch der Fluß unterliegt dem Wandel der Zeit, den Kräften der Geologie, des Klimas, der Vegetation – und zuletzt dem formenden Eingriff des Menschen, der seine Zeit der Zeit des Stromes einbettet, der abwechselnd Grenze, Verkehrsweg, Handelsmöglichkeit, Katastrophenbringer, Energielieferant, Abwasserkanal oder Frischwasserquelle in dem Gewässer sieht und endlich sogar einen schützenswerten Naturraum, der seinen eigenen Wert an sich hat. Als Tümmers in den achtziger und neunziger Jahren den Strom bereist und erwandert, waren die großen Umweltkatastrophen von Seveso (1976), Bhopal (1984), Tschernobyl (1986) und, mit Bedeutung für den Rhein, der Unfall von Basel Schweizerhalle, 1984, bei dem infolge eines Brandes im Chemiewerk des damaligen Unternehmens Sandoz (heute Novartis) mit Pflanzenschutzmitteln verseuchtes Löschwasser in den Rhein gelangte und ein großes Fischsterben auslöste, gerade erst passiert. Tümmers schreibt mit dem Eifer der gerade zum ersten Mal kulminierenden Ökobewegung, bleibt dabei aber sachlich und ist stets bereit, Vorteile gegen Nachteile abwägend zu bewerten, wenn er die zahlreichen, zum Teil massiven Eingriffe des Menschen in den Strom und deren teils beabsichtigte, teils unbeabsichtigte Folgen beschreibt, allen voran die berühmte „Rhein Rectification“, die Begradigung des Oberrheins durch Tulla in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Mit deren Folgen wir bis heute leben, und deren Vorzüge niemand mehr missen will.

Bevor der Mensch ihn zu formen beginnt, muß freilich der Strom erstmal selber werden, wer er ist. Er muß es zweimal: erstens muß er aus seinen Anfängen, seinen Quellen und Nebenflüssen, jeweils der werden, der er stromabwärts ist. Und er mußte erdgeschichtlich der Strom werden, als den ihn die ersten Menschen, die in Mitteleuropa zuerst siedelten, kennenlernten. Tümmers beschreibt Stromabschnitt für Stromabschnitt die geologischen Grundlagen, von der variszischen Gebirgsbildung im Erdaltertum über die Hebung der Alpen im Tertiär und die jüngeren tektonischen Vorgänge, die zum Absinken des Oberrheingrabens, des Neuwieder Beckens und der Kölner Bucht führte und dafür sorgte, daß unser Strom nicht, wie noch bis zum Beginn des Tertiärs, über die Rhone ins Mittelmeer, sondern nach Norden und in die Nordsee fließt; bis hin zu heutigen Prozessen der Auskolkung und Sedimentierung, an denen sich Geologie im Vorgang selbst beobachten läßt. Allein diese Vorgänge sind so komplex und interessant, daß sie Stoff genug für eine eigene Monographie ergäben. Man mag es Tümmers darum nicht vorwerfen, wenn er die Geologie des Rheins mit aller Sorgfalt zwar, aber doch recht summarisch behandelt.

Tümmers’ eigentliche Leidenschaft ist die Geschichte, die jüngere zumal. Neben den ökologischen und umweltpolitischen Exkursen nimmt die umfangreiche Beschreibung der sogenannten Rheinromantik von den Anfängen englischer Reiselust bis zum romantischen Patriotismus um die Jahrhundertwende den größten Raum ein. Zurecht, möchte man meinen, ist es doch diese Epoche, die durch die Feder literarischer Größen wie von Arnim, Heine und den Brentanos, die unser Bild vom Rhein und unsere Erwartungen an den Strom am nachhaltigsten geprägt haben. Freilich ist es aber auch das Erwartbare, das wohl in jedes Buch über den Rhein gehört. Wer originell sein wollte, müßte sich hier schon etwas Besonderes einfallen lassen. Tümmers bleibt beim Konventionellen, ohne indes nur eine Pflichtübung abzuhalten, sind doch gerade die Passagen über die Rheinromantik, ihre Wurzeln, ihre Entwicklung ebenso wie ihre nationalstische Vereinnahmung, mit die dichtesten und am flottesten erzählten des Buches.

Tümmers Sprache ist schmucklos, nüchtern, stellenweise kanzleiartig-spröde, niemals aber unpräzise. Manchmal etwas störend sind allenfalls die langen Zitate; hier wäre an vielen Stellen ein zusammenfassender Bericht leichter lesbar gewesen. Tümmers ist auch kein Autor langer Beschreibungen. Das mag mancher Leser unter die Vorzüge des Buches rechnen; wer aber die Rheinlandschaften nicht vom Augenschein her kennt, wird sich unter den geschilderten Landschaften nichts vorstellen können, sie bleiben blaß und karg und verlocken nicht dazu, sich selbst auf die Rheinreise zu begeben. Es ist ein Buch der Fakten, keins der Atmosphären.

Konventionell ist auch der Aufbau des Buches. Tümmers folgt dem Rhein von den Quellen zur Mündung, gliedert den Text nach den naturräumlichen Abschnitten in Alpen-, Ober-, Mittel-, Niederrhein und Delta. Tümmers hat die Form einer großen Reportage gewählt. Rein erzählende oder referierende Abschnitte wechseln mit Originaltönen, Zeitungsberichten und Zitaten ab. Das persönliche Erleben des Autors tritt dabei meist in den Hintergrund. Zwar spricht Tümmers mehrfach davon, daß er am Rhein entlangwanderte (dem damals noch instand gehaltenen Rheinhöhenweg ist ein eigenes Kapitel gewidmet), doch eine Erzählung übers Wandern gibt es nur in Form einer einzelnen kleinen Episode am Alpenrhein. Vielleicht die gelungenste Passage, zweifellos der dramaturgische Höhepunkt des Buches schildert eine Reise auf einem Schubverband von Worms bis Duisburg und von dort auf einem anderen Schiff bis zum Hafen Rotterdam. Wer je am Rheinufer gestanden und, den großen Kähnen nachblickend, sich gefragt hat, wie das Leben auf so einem Schiff wohl aussehen mag, hier kann man es nachlesen. Man darf allerdings vermuten, daß schon heute kaum noch etwas so ist, wie Tümmers es beschreibt (eine Welt ohne GPS, ohne Mobiltelephon, ohne Computer und Internet, und jadoch, die Schiffe kamen trotzdem heil über Klippen und Untiefen), und der Strukturwandel im Zuge der Globalisierung kündigt sich in den Stimmen der zu Wort kommenden Kapitäne und Schiffseigner bereits an. Nur ein schon älteres Buch kann diesen Blick auf eine noch nicht lange zurückliegende, aber doch schon versunkene Welt vermitteln, der so verblüffend ist, in eine Zeit hinunter, aus der aufschauend sich unsere eigene in einem etwas verschobenen Licht zeigt, wie ein Zimmer, in dem die gleichen Möbel anders aufgestellt worden sind als gewohnt.

Wer ein Buch über eine Landschaft, eine Stadt oder eben, wie hier, über einen Fluß schreibt, hat zwei Möglichkeiten: Beschränkung auf diejenigen Zeitalter, die als abgeschlossen gelten können und auf eine Weise erzählbar sind, die keine losen Fäden übrig läßt. Oder bis in die eigene Aktualität hineinzuschreiben und dabei in Kauf zu nehmen, daß der Text in kürzester Zeit veraltet. Hätte der Autor den ersten Weg gewählt, hätte er – 1994 – das Buch mit dem zweiten Weltkrieg als einer klaren Zäsur enden lassen müssen. Damit wäre er der Gefahr der Veralterung aus dem Wege gegangen, hätte aber auch auf die Darstellung bedeutsamer Entwicklungen, etwa der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmenden, Ende der sechziger Jahre einen traurigen Höhepunkt verzeichnenden Verschmutzung des Rheins, verzichten müssen. Tümmers hat in Kauf genommen, daß sein Rheinbuch schon nach ein paar Jahren sich über weite Strecken wie ein Archivbericht liest. Die IBA Emscherpark, zu Tümmers Zeiten der zaghafte Versuch, eine verwüstete, vergiftete Landschaft biologisch wie kulturell wiederzubeleben, ist inzwischen in erfolgreichen Projekten wie der Jahrhunderthalle Bochum oder dem Gasometer in Oberhausen und vielen weiteren aufgegangen, die längst ihren festen Platz im Kulturleben haben. An der Verkehrssituation im Rheintal, schon von Tümmers beklagt, hat sich nichts geändert, im Gegenteil. Man mag Vorschläge wie den von Tümmers zitierten, das Rheintal für den Autoverkehr zu sperren und Zufahrten nur noch in die Ortschaften von den Autobahnen A 61 bzw. A 3 her zuzulassen, belächeln; eine bessere Lösung haben wir zwei Jahrzehnte später indes immer noch nicht gefunden. Das Vergnügungszentrum auf der Dörscheider Höhe oberhalb von Kaub, eine Art Las Vegas am Rhein, ist uns zwar erspart geblieben, ebenso wie ein ähnliches Großprojekt oberhalb von Oberwesel. Aber es tut sicher gut, sich noch an solche Wahnsinnsideen zu erinnern, nicht daß solche Vorschläge abermals laut werden. Aus seiner zeitgenössischen Aktualität heraus vermag so das Buch, indem man es nicht als inzwischen veraltetes Dokument, sondern als einen Zeitzeugen liest, vieles vor dem Vergessen zu bewahren, an das wir uns tunlichst erinnern sollten.

Mensch und Strom, das ist von jeher ein gespanntes Verhältnis gewesen. Tümmers erzählt eine Geschichte des Kampfes mit dem Wasser, in dem der Mensch den Fluß nach und nach zu seinen eigenen Zwecken zu zähmen wußte, ihn zu seinem Fluß macht – und doch immer wieder von den unvorhersehbaren Wirkungen seines eigenen Tuns überrascht wird. Der Strom, wie er sich uns heute zeigt, ist über die weiteste Strecke seines Laufs Menschenwerk. Tümmers zeigt, wie der Rhein jahrhundertelang Schicksalsmacht war, wenn er mit seinen Überschwemmungen Häuser wegriß, Siedlungen verwüstete, Ernten vernichtete, Menschen in Scharen ins Elend stürzte. Man kommt nicht umhin anzuerkennen, daß die Arbeit der ersten erfolgreichen Wasseringenieure, die dem Strom ein stabiles Bett gaben, ein Segen für die Menschen war, die an seinem Ufer ihr Dasein fristeten. Sümpfe wurden trockengelegt, Mücken und Krankheiten ausgerottet, Land urbar und sicher gemacht – aber auch die gewaltigen, artenreichen Auenwälder, die die Landschaft des Ober- und des Niederrheins prägten, vernichtet. Der Leser erfährt, wie ein Eingriff den nächsten nach sich zog: Die Erosionskraft des begradigten Flusses war stärker als gedacht, der Grundwasserspiegel sank, höhere Fließgeschwindigkeit führte zu Auskolkungen hier und zu Sandablagerungen dort, so daß an einem verbesserten Strom auch ständig nachgebessert werden mußte und muß. So läßt sich am Rhein exemplarisch die ganze Ambivalenz ablesen, das Doppelbödige, das noch in jedem menschlichen Eingreifen in die Natur früher oder später sich zeigt.

Die Natur als mit Absichten begabtes Wesen, das reagiert, sich verweigert, mit Überraschungen aufwartet, bald zu kooperieren scheint, bald auf Vergeltung für erlittenes Unrecht sinnt – in Tümmers Art, über den Rhein zu sprechen, wird der Fluß als Charakter lebendig, bekommt er eigenen Willen, wird er zum eigentlichen Protagonisten unter all den Napoleons, von Steins, Blüchers, Tullas, Kurfürsten und Sandoz-Vorstandsvorsitzenden, deren Tun mit dem Gewässer verbunden gewesen ist. Sie alle, könnte man sich denken, waren an diesem Fluß, haben ihn betrachtet, ignoriert, instrumentalisiert, an ihm herumgedoktert, ihm ein neues Bett verpaßt, ihn alleine besitzen wollen, über ihn hinwegentschieden, ihn gebraucht und mißbraucht. Sie alle sind gekommen und wieder gegangen, wie nach ihnen noch manche kommen und gehen und jeweils sich selbst in eine Beziehung zu dem Strom setzen werden, die diesem am Ende egal sein wird. Er wird einfach das tun, was er immer getan hat, fließen.

Wenn wir nach über 400 Seiten und 1200 Stromkilometern in Rotterdam aus dem Strom und der Erzählung entlassen werden, sehen wir den Strom mit anderen Augen, haben wir in dem Gewässer, das wir zu kennen glaubten, einen ganz neuen Fluß kennengelernt und sind dabei noch gut unterhalten worden. Und am Ende ist man ein bißchen traurig darüber, daß Ströme ebenso irgendwo enden wie Erzählungen.

Horst Johannes Tümmers Der Rhein. Ein europäischer Fluß und seine Geschichte 2. Auflage 1999. 479 S.: Broschiert ISBN 978-3-406-44823-2

Mittwoch, 17. September 2014

Am Bahnhof

Bahnhof Bacharach. Ich bin von einer längeren Wanderung aus den Hügeln heruntergekommen. Ein Zug ist mir vor der Nase davongefahren, der Fahrkartenautomat wollte meinen Geldschein nicht; also beziehe ich eine Bank und hole mein Buch aus dem Rucksack. Zum Lesen komme ich aber nicht; eine Bank weiter sitzt ein älteres Paar, Briten, die sich laut und mit finsteren Gesichtern unterhalten. Das Geschäft hätte nun auch geschlossen, sagt sie. Das sei die Rezession, meint er; ihr Pensionswirt habe auch schon daran gedacht, aufzuhören … Ich gehe zu den beiden hin und frage sie auf Englisch, ob sie mir Geld wechseln können, und ob sie die Gegend kennen?

Bacharach. (Vor dem Umbau.

Seit seiner Jugend komme er her, immer in dieselbe Pension nach Linz, erklärt der Mann; seit etwa 2002 könne er beobachten, wie die Bahnhöfe verfielen; Läden würden geschlossen, Häuser an der Hauptstraße wären unbewohnt oder sähen doch so aus. In einem Wort: Verwahrlosung. – Woran dieser Niedergang liege? Am Ferntourismus, das zum einen. Eine Flugreise in den sonnigen Süden sei von London aus weitaus günstiger zu haben als die zwei Wochen am Rhein. Und mit dem Euro sei alles so teuer geworden. – Aber er komme immer noch?, fragte ich. Ja – seine Frau und er hätten hier ihre Flitterwochen verlebt. Und nach all den Jahren …

Ich bin berührt. Die beiden hängen mit grimmiger Liebe an ihrem vergangenen Urlaubsparadies. Jahr für Jahr wird es ungastlicher, und doch kehren sie immer wieder. Ich hoffe sehr, daß sie irgendwann wieder positive Entwicklungen vermerken können.

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